Quergespielt: Katawa Shoujo
Das digitale Kollektivbewusstsein 4chan kennt man vor allem für kruden Humor und oft fehlgeleiteten Aktivismus. Entsprechend niedrig waren die Erwartungen als einige Mitglieder unter der gemeinsamen Flagge Four Leaf Studios begannen einen interaktiven Roman zu entwickeln. Auf den ersten Blick schien Katawa Shoujo (englischer Untertitel: Disability Girls) ein Auswuchs 4chans sexueller Faszination am Grotesken zu sein, zumal das Visual Novel Genre ohnehin hauptsächlich für Schmutz und Schund bekannt ist.
Protagonist Hisao Nakai, ein in jeder Hinsicht durchschnittlicher Schüler, landet nach der Diagnose einer schweren Arrythmie in der Yamaku Akademie, die auf die Pflege und Ausbildung solcher speziellen Fälle vorbereitet ist, und freundet sich mit diversen Schülerinnen an, denen er im Verlauf des Spiels auch näher kommt. Da wären etwa die schüchterne Hanako, stets bemüht ihre vernarbten Brandwunden zu verstecken, die fröhlich unbekümmerte Sportskanone Emi, der beide Beine fehlen, oder die unnahbare Künstlerin Rin ohne Arme. Die Mechanik des Spiels ist dabei denkbar minimal, man klickt sich durch untertitelte Bilderserien, hin und wieder stehen Entscheidungen an, vor allem im ersten Akt, der festlegt mit welcher der Damen Hisao schließlich anbandelt.
Nun mag es einem geschmacklos erscheinen, sich dieser Materie mit pornografischer Intention zu nähern, grundsätzlich ist daran aber nichts Verwerfliches. Körperliche Liebe gehört zu dem erfüllten Leben, das man Behinderten in unserer Gesellschaft so gerne zuspricht, und so kann man Katawa Shoujo in Ermangelung anderer Qualitäten immerhin noch die Erweiterung unserer Perspektive zugute halten. Aber es kam ganz anders: Katawa Shoujo übertraf alle Erwartungen und verblüffte durch respektvollen Umgang mit dem Thema, vielschichtige Charaktere und eine aufrichtige, emotionale Komponente. Die größte Überraschung: Es geht in diesem Spiel überhaupt nicht um Sex.
Zwar gibt es in Katawa Shoujo Sex (eigentlich der schlechteste Teil des Spiels, da brutal peinlich geschrieben), aber die eigentliche Beziehungsdynamik geht weit über das Körperliche hinaus. Das Drama weiß seine Figuren menschlich zu zeichnen, ihre Fehler, Schwächen und emotionalen Probleme lassen sich nicht durch Sex lösen, und wer sie auf Teufel komm raus bedrängt richtet nur noch mehr Schaden an. Es gilt, Bindungsängste, Traumata und emotionale Distanz zu überwinden – ein nervenaufreibender und quälend langsamer Prozess, der viel Ehrlichkeit, Vertrauen und Zuneigung erfordert. So gipfelt das Spiel schließlich nicht in der ersten gemeinsamen Nacht, sondern in Liebesbekenntnissen und dem Planen der gemeinsamen Zukunft.
Ohne Frage, Katawa Shoujo ist kitschig, noch dazu schwankt die Qualität der einzelnen Texte, Szenen und Pfade teils stark. Trotz dieser Mängel ist der Titel einen Blick wert, denn in einem Medium, das sich mit Intimität so schwer tut, in dem das andere Geschlecht als schmuckes Beiwerk zum Objekt reduziert wird und Liebe sich zwischen Schusswechseln und Explosionen halt einfach irgendwie ergibt, sticht Katawa Shoujo angenehm heraus. Wer sich auf das Spiel einlässt, dem gibt es noch weit mehr zurück. Das muss Liebe sein.
Katawa Shoujo ist kostenlos auf der Homepage des Entwicklers Four Leaf Studios verfügbar.